Selbstverwirklichung, eine evolutionäre Sackgasse?

Kommt vielleicht auf das Selbst an, oder das Ich. Kommt darauf an, was unter dem Ich schlummert und gern mal die Richtung weist, wenn es nicht weiter geht im Alltag, in gefühlten Schlüsselmomenten, oder wenn ich rückwärts die Einbahnstraße raus schleiche, in die ich mich manövriert habe – jahrelang und vor allem emotional. „Was wird das hier?“, fragen sich nun die Leser. Meine Antwort: „Eine Weltgeschichte!“

Wer bin ich, frage ich mich, wenn ich in den Spiegel schaue, auf den ein Sticker geklebt ist, auf dem geschrieben steht: „Warning – Reflections in this mirror may be distorted by socially constructed ideas of ‚beauty‘.“ Irgendjemand hat versucht, diesen Aufkleber wieder zu entfernen. Aber er war hartnäckig – der Aufkleber – und ich frage mich, was ist schlimmer, zu hinterfragen und sein Leben nach den Antworten zu gestalten, die mir gegeben werden oder ungefragt mit Wahrheiten konfrontiert zu werden, auf die mensch nicht vorbereitet war und vielleicht nie von selbst auch nur auf die Frage gekommen wäre.

Ich glaube, gerade geht es vielen Menschen auf der Nordhalbkugel so, die sich eigentlich einfach nur über das sonnige Wetter freuen und die nur Sorge haben, dass ihr Eis zu schnell schmilzt. Während ich mich um Stadt- und Waldbäume, Gebüsch, Getier und die Polkappen sorge, welche mit der Klimakrise kämpfen. War das meine Entscheidung oder wurde ich da hineingeboren? Irgendwie schon letzteres, aber ich will nicht zu weit ausholen. Ich esse jetzt jedenfalls gern veganes Eis für 2 Euro die Kugel. Ist auch keine super Lösung aber das Gewissen ….

Mein Gewissen und die Sicht auf die Zusammenhänge, lassen mich auf die Straße gehen, ob nun für Ein Europa für alle oder bei einem Trauermarsch für die aussterbenden Arten. Ich fühl mich dabei erst mal gut, bin aufgeregt und freue mich über die vielen Menschen, die zusammen kommen, um zu zeigen, dass es ihnen nicht egal ist, dass die Welt an die Wand gefahren wird. Ich bin ergriffen, wenn ich sehe, dass Gothics, die für aussterbende Arten getragenen Schritts durch die Innenstadt laufen, bei den Umstehenden Diskussionen über die Eisbären auslösen. Aber reicht das? Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn wir sind alle Betroffen und dies ist eine Krise, die wir nur gemeinsam bewältigen können.

Vom Selbst übers ich zum Wir. Ich habe gelesen, dass wir, also wir Menschen, kooperative Tiere sind. Wir haben uns unter anderem so vermehrt und ausgebreitet, weil es uns möglich ist, zusammen zu arbeiten. Wir sprechen miteinander, teilen uns mit und tauschen uns aus. Streit gehört auch dazu. Wir leben und arbeiten in Gruppen, Cliquen, Teams. Wir besuchen Konzerte, auf denen wir anderen zujubeln, die uns aus der Seele sprechen. Wir lieben uns und hassen uns auch. Ich muss daran denken, wie sehr mein fehlender Selbstwert, mich daran gehindert hat, auf Menschen zuzugehen und wie oft das als Arroganz fehlinterpretiert wird. Das ist alles so komplex aber halt auch spannend.

Und wieder die Frage: Wo geht es hin mit diesem Text? Gefühl! Gefühl wird ausgelöst durch mein Gegenüber, wird ausgelöst durch mein Selbst, was in meinem Gegenüber sich selbst erkennt oder eben nicht. Und nun wieder die Frage: Wenn ich mich selbst verwirkliche, hilft das jemand anderem und kann das am Ende sogar die Welt verbessern? Und ja, ich will die Welt verbessern. Gutmensch und so: Ich! Besser, weil unser Umgang mit Natur und Umwelt nur besser werden kann und auch muss. Wenn es so weitergeht wie bisher ist das schlecht für uns alle und auch unmöglich – ganz logisch betrachtet.

Wie kann ich mich nun selbst verwirklichen? Ich bräuchte Zeit und ein Selbstwertgefühl, das meinen inneren Zensor in Schach hält, ich bräuchte Geld, damit ich mir ein Dach über dem Kopf leisten kann, damit ich was zu essen kaufen kann und auch damit ich mir was zu schreiben leisten kann, denn mein innerstes Bedürfnis ist es, zu schreiben. Damit lerne ich mich besser kennen, damit kann ich vielleicht auch andere Menschen erreichen, so dass sie anfangen zu hinterfragen. Auch mich zu hinterfragen und den Sinn dieses Textes, natürlich gern. Virgina Woolf hat das so genial geschrieben in „A Room of One‘s Own“. Meine Zeit und mein Geld und mein Leben reichen für Texte wie diesen, Gedichte und täglich Tagebuch. Was würde ich fabrizieren, wenn ich mehr Zeit und oder Geld oder Leben hätte. Und wäre das alles relevant? Natürlich kann ich davon ausgehen, dass eine andere Person diese Art von Essay schon geschrieben haben könnte, vielleicht auch aussagekräftiger oder gar als wissenschaftlicher Essay. Zum Beispiel habe ich gerade das Buch: „Das 6. Sterben“ von Elisabeth Kolbert gelesen und danach müsste ich nichts mehr zu Klimakrise und Artensterben schreiben, weil sie als Wissenschaftsjournalistin das so grandios und fundiert berichtet, dass dazu alles gesagt scheint.

Dies hier jedoch ist mein persönlicher Versuch, dieses wichtige und zerschmetternde Thema mit meinem Selbst in Einklang zu bringen. Dies ist mein Versuch mit allem klarzukommen und gleichzeitig wird es gerade ein Appell an alle, die dies lesen, sich selbst die Frage zu stellen: „Was würde ich tun, wenn ich die Wahl hätte?“ Und sich dann zu fragen: „Warum denke ich, ich hätte keine Wahl?“ Ich lerne das auch gerade, jeden Tag frage ich mich in mindestens einer Situation: „Muss ich das jetzt wirklich mitmachen? Was wäre, wenn ich aufstehe und gehe? Was wäre, wenn ich meine Meinung sage? Was wäre, wenn ich mich aus meiner Komfortzone raus begebe?“ Klingt anstrengend und ist es auch. Aber es lohnt sich für mich. Beispiele? Ich bin zufriedener mit mir, da ich meine Bedürfnisse klarer äußere und damit auch mehr bei mir sein kann. Das ist eine neue Erfahrung für mich. Ich war früher davon überzeugt, mein Gegenüber müsste ahnen oder sogar wissen, was in mir vorgeht und was ich will. Aber da gehe ich von mir aus. Andere sind nicht so emphatisch. Das akzeptiere ich nun und oftmals gehe anders mit meinen Mitmenschen um. Ich bin gelassener, aber immer noch falle ich in alte Muster zurück und denke dann für andere mit oder will unterstützen, wo mein Rat nicht mal erbeten worden ist. Das schlaucht mich und ich verschließe mich dadurch irgendwann.

Ist der Abschnitt oben ein Beispiel für eine Innenschau, mit der nur die Schreibende etwas anzufangen weiß? Oder bringt das anderen Leuten etwas? Das ist die große Frage mit der ich mich oft beschäftige. Zweifel an der Sinnhaftigkeit des kreativen Produkts, hat schon so manche verstummen lassen. Deswegen finde ich es praktisch, dass ich nicht vom Schreiben leben muss. Ich habe eine Teilzeitstelle und kann in meiner Freizeit kreativ sein. Ich entscheide frei, ob ich diesen Text auf meinem Blog veröffentliche oder nicht. Worüber ich keine Kontrolle habe, ist, wie ihn die Leute aufnehmen, was er ihnen gibt und was sie damit anfangen können.

Ist nun Selbstverwirklichung eine evolutionäre Sackgasse? In Elisabeth Kolberts Buch gibt es ein Kapitel namens „Das Wahnsinnsgen“. Es geht darin um die Neandertaler und darum, dass sie im Gegensatz zum Homo Sapiens, nie großartig in ihre Umwelt eingegriffen und diese somit umgestaltet haben, obwohl sie sich auch umeinander gekümmert haben und wohl auch intelligent genug gewesen wären. Der Mensch, wie er heute noch auf Erden wandelt, hingegen, hat sich nicht von reißenden Flüssen oder gar Meeren abhalten lassen, die Welt zu besiedeln und nach seinen Vorstellungen zu verändern. Dafür muss mensch schon etwas Wahnsinn in sich tragen aber vor allem Vorstellungskraft. Wir haben Kunstwerke und technologische Wunder geschaffen, sind aber auch seit langem dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Alles was wir uns in unserer Fantasie ausmalen können scheint Wirklichkeit zu werden, im Guten wie im Schlechten.

Liegt nun damit die Verantwortung Gutes zu planen und dann zu tun in jedem selbst, oder ist nicht auch die Gesellschaft gefragt, darauf hinzuwirken, dass wir genug Informationen haben und diese auch entsprechend sortieren können, um die für uns richtigen Entscheidungen zu treffen? Meiner Meinung nach, ist ein Weg dahin, der, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu verwirklichen. Vielleicht wäre eine Welt in der die Lohnarbeit der Vergangenheit angehört und wir alle selbstbestimmt unser Leben mit einem Grundeinkommen gestalten können, eine Variante. Wenn wir nicht mehr jede Arbeit annehmen müssten, um Geld zu verdienen, dann gäbe es viele Jobs einfach nicht mehr und das sind Jobs, die niemand vermissen würde. Andere Bereiche wie Sorgearbeit und Landwirtschaft könnten umgestaltet werden, wovon wir alle und letztlich der ganze Planet profitieren würden.

Ich schreibe in dieser Zeit in meinen Gedichten viel über die Entmachtung der Mächtigen. Da für mich Machtgefälle oft Ursachen für Ungerechtigkeiten sind. Damit meine ich nicht Gewaltanwendung und auch nicht unbedingt Revolution. Ich meine damit eine nachhaltige Umwälzung der Verhältnisse. So oder so, Ungerechtigkeiten werden dieses System wohl bald zum Kippen bringen. Die Frage ist, in welche Richtung es fällt: Leid und Schmerz für die Menschheit und alle Lebewesen auf der Erde oder ein Gutes Leben für alle.

Ich fühle mich dazu aufgerufen, mir nach bestem Wissen und Gewissen die Informationen zu holen, die mich befähigen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Denn nur, wenn ich zufrieden bin mit meinem Leben oder auch nur die Hoffnung auf Zufriedenheit im Leben sehe, gibt mir das auch Hoffnung zusammen mit anderen das Ruder herumzureißen und dem Sturm zu trotzen, den wir heraufbeschworen haben.

Vielleicht die Selbstverwirklichung der Einen der Grund gewesen für die Misere, aber immer auch gibt es die Menschen, die miteinander kooperieren, die auch mal altruistisch handeln, Generationen voraus planen und vor allem Zusammenhänge erkennen. Warum schätzen wir solches Verhalten nicht als zukunftsweisend und zukunftssichernd? Ich habe viele Vorbilder, die so gehandelt haben und es gibt unzählige Menschen, die gegenwärtig so handeln. Ich ziehe meinen Hut vor Menschen wie Virginia Woolf oder Elisabeth Kolbert und werde mein Bestes tun – auf meine ganz persönliche Art – zu versuchen, die Welt ein Stück besser zu machen und damit die Erde, unser aller Raumschiff, zu erhalten.

 

JB-06-2019

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Warum Spatzen für mich die wichtigsten Geschöpfe auf der Erde sind

Heute im Park beim Lesen spazierten die Spatzen auf den frühlingshaft grünen Zweigen umher und tschilpten sich zu.

Heute auf dem Weg nach Hause vom Einkauf, flog so ein Spatz an mir vorbei und mir kam ein Gedanke: Für mich sind Spatzen die wichtigsten Wesen auf der Erde. Es wird nicht einfach sein, das Warum zu erläutern, aber ich werde es in diesem Text versuchen; auch weil heute Weltspatzentag ist, wie ich beim Scrollen in Facebook erfahren durfte, habe ich mich entschlossen diesem Gedanken nachzugehen.

Heute ist ebenso Tag des Glücks, wie meine Eltern am Telefon erzählten, was für mich super zusammen passt: Glück wie Vierblättriger Klee, Fliegenpilz oder halt Spatzentschilpen. Die Frage stellt sich nur, wer diese „Tage des …“ festlegt? Gibt es da ein Komitee, was sich damit beschäftigt? Aber ich schweife ab. Zurück zu den unauffälligen und vielleicht deswegen sehr lauten Haussperlingen, wie sie in der Vogelkunde genannt werden.

Aufgewachsen bin ich in einem Haus mit bröckligem Putz und vielen Ritzen. Prädestiniert für eine Spatzenkolonie. Solange ich hören kann, höre ich ihr Tschilpen also. Schon als Baby im Kinderwagen und auch als kleines Kind. Als Jugendliche hab ich dann oft mit Kopfhörern Musik gehört aber nie, um die Spatzen auszublenden. Das war für mich auch Musik. Musik, die ich hier in Leipzig wieder an einigen Ecken höre. Und ja, das ist dann für mich ein nostalgisches Glücksgefühl an Kindheit mit viel Raum und Zeit.

Ein Dilemma ist es da, dass ich auch Katzen sehr mag, die wie alle wissen Spatzen zum Fressen gern haben. Eine Episode meiner Jugend: Ich sollte Wäsche auf dem Wäscheboden aufhängen. Meine Katzenfreundin Biene wollte unbedingt mitkommen. Ich ließ sie und als ich mit Wäsche aufhängen beschäftigt war, hörte ich auf einmal aufgeregtes Tschilpen. Da kam auch schon Biene angelaufen mit einem toten Spatzenküken im Maul. Ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen deswegen, denn ich hatte Eins und Eins nicht zusammen gezählt. Unsere Spatzenkolonie brütete unter dem Dach und vom Dachboden aus war es für eine Katze ein leichtes die Nester zu erreichen. Das war mir aber eine Lehre für die Zukunft und ist mir nicht nochmal passiert.

Warum nun sind diese Vögel mir so wichtig? Das mit der Nostalgie ist vielleicht klar geworden. Des weiteren sind Haussperlinge für mich der Inbegriff der Stadtnatur. Sie sind angewiesen auf Hecken, in denen sie nisten und ruhen können. Sie brauchen Nahrung in Form von Raupen und Samen. Das alles gibt es in einer „aufgeräumten“ Stadt leider nicht mehr. Alles wilde, alle Spielplätze für die Natur sind da schon den Baggern und Neubauten gewichen. Noch ist es in Leipzig nicht ganz still, aber mir fallen umso mehr die Inseln der Spatzen auf, die noch übrig geblieben sind. Und es wird gebaut und gebaut.

Warum ich das so schlimm finde? Ich finde das schlimm, weil ich mich nicht als Krone der Schöpfung ansehe. Als Mensch sehe ich mich nicht über anderen Lebewesen stehen. Ich versuche auch danach zu leben, was sehr schwer fällt, wenn ich mir vor allem meinen Speiseplan anschaue. Ich will auch nicht predigen. Ich will versuchen, verständlich darzulegen, warum mein Leben nicht wertvoller ist als das eines Spatzen, was meine vollste Überzeugung ist. Und dann erkläre ich sogar, warum er für mich wichtiger ist als meine eigene Spezies, wie die Überschrift ja provokanter weise ausdrückt.

Es gibt Lebewesen auf der Erde, die schon so lange existieren als Art, sich immer weiter entwickeln bis hin zur Perfektion. Der Mensch gehört für mich sicher nicht zu diesen Lebewesen; Bakterien, Viren oder Pilze, sind da schon näher dran. Zugegeben sie haben auch Vorsprung was die Zeit angeht, in der sie sich entwickeln konnten. Überhaupt, wenn ich daran denke, wie großspurig die Spezies Mensch von sich denkt, dann ist da wohl ein riesiger Minderwertigkeitskomplex am Start. Da muss an Evolutionsjahren einiges kompensiert werden mit hoher Denkleistung, Bewusstseinswerdung und vielen, vielen positiven Mantras. Oder anders ausgedrückt: Größenwahn.

Wie soll das auch anders sein, wenn mensch sich sogar seiner nächsten Verwandtschaft den Affen schämt? Lange Zeit wollten wir diese Verwandtschaft ja auch nicht anerkennen und es gibt immer noch genug Vertreter von Homo Sapiens, für die die Erde eine Scheibe ist, sieben Tage lange im größten Steinofen des Universums von Gott gebacken. Da hat so was wie Evolution keinen Platz und die Menschen haben von Papa ja auch den Freifahrtschein bekommen über die Erde zu herrschen, sie sich Untertan zu machen und sie dann, wie ein spielendes Kind das Kinderzimmer, zu verwüsten. Nicht mein Weltbild!

Mein Weltbild hat viel mehr mit einem Kreis zu tun als mit einem nach oben spitzen Dreieck. Ich meine Kreis im Sinne von dem „Circle of Life“. In dieser Grafik sind wir eine ganz kleine Nummer, wenn auch unser „Impact“ verheerend ist. Und in diesem Kreis des Lebens sehe ich auch dass Spatzen schon so einiges überlebt haben. Wie andere Vögel sind sie die Nachfahren von den Dinosauriern. Sie hatten Zeit so geniale Sachen wie Federn zu entwickeln und fliegen zu lernen. (Achtung „Flugneid“ nicht ausgeschlossen.) Sie haben sich wie Wolf und Katze entschieden in der Nähe des Menschen zu leben. Wobei sie wohl wiederum mehr mit Katzen gemein haben, die auch gut ohne Menschen auskommen können, wenn es denn drauf ankommt.

Und nun sind auch diese Tiere, die solange so gut überlebt haben am Verschwinden. Diesen Spruch von Einstein oder Maurice Materlinck finde ich sehr passend: „Wenn die Bienen aussterben, sterben vier Jahre später auch die Menschen“. Für mich und auf Spatzen übertragen heißt das: „Wenn die Spatzen aus meinem Leben verschwinden, geht mit ihnen für immer auch meine geistige Gesundheit.“ Und da mir diese sehr wichtig ist und ich auch schon weiß, wie es sich ohne anfühlt, sind mir Spatzen wichtiger als ich selbst es bin.

JB-20-März-2019

Fotosafari – Kurzgeschichte

Die Fotosafari

Durch eine Linse betrachte ich dich, mit einem Knopfdruck mache ich mir ein Bild von dir. Dabei verlierst du weder deine Seele noch dein Leben. Du bist ein Schmetterling und sitzt auf einem Brombeerblatt. Was siehst du Schmetterling mit deinen Facettenaugen? Was kannst du erinnern? Ich komme dir so nah wie möglich, ohne dass du den Drang verspürst davon zu fliegen. Ich will dich nicht festhalten, nur den Moment. Und ich frage mich: Klammerst du dich an diese Blattoberfläche oder erscheint es mir nur so, da ich mich gerade an jemanden klammere?

Wir sind auf einen Hügel gestiegen, mein bester Freund und ich. Er fast immer einen halben Schritt vor mir die asphaltierte Straße hinauf, die sich um diesen künstlich aufgeschütteten Hügel windet. Der Hügel ist bewachsen von Eichen, Ahornbäumen und Buchen die so alt zu sein scheinen, dabei ist der Hügel erst nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Schutt der Stadt Leipzig zusammen getragen worden. Überall ragen noch Reste von Mauerstücken aus der dunklen Erde.

Am Fuße des Hügels sind die Bäume umrankt von lianenähnlichen Schlingen. Wir fühlen uns wie im Urwald, dabei ist der Auenwald noch ein Stück entfernt, der wahre Urwald von Leipzig. Auch der Beginn unserer Freundschaft erscheint mir als ein so unglaublich weit entfernter Ort in der Vergangenheit. Es ist nun auch schon wieder 17 Jahre her. Damals in dieser Kleinstadt, in der sich ein paar Jugendliche zusammengefunden haben, die nicht auf Dreierschritt Disko standen, sondern auf die sogenannte Subkultur, die einfach nicht mit dem Strom schwimmen wollten und sich Gedanken darüber machten, warum es Grenzen geben muss und warum diese dann verteidigt werden müssen.

Als wir um den Hügel laufen, denken ich an die Geschichte der Stadt, und an die Geschichte des Landes, in dem ich zufällig geboren und aufgewachsen bin. Es erschüttert mich, denn es ist eine Geschichte aus Krieg, Feindseligkeit und Missgunst. Wie anders ist da die Beziehung gewesen, die aus unserer Freundschaft entstanden ist. Wir haben auf ein Fundament aufgebaut und das Haus geschmückt mit wilden Ranken. Aber es entstanden, wie in jeder Partnerschaft auch Missverständnisse, nicht zu erfüllende Ansprüche und oft haben wir uns auch zu sehr bei uns selbst ausgeruht.

Wir laufen weiter den Hügel hinauf um die letzte Biegung. Kommen an auf einem Plateau das mit Wiese bedeckt ist und umsäumt von einem Kranz aus Bäumen. Es gibt Sichtachsen, die die Skyline von Leipzig freigeben. Da ist das Rathaus mit seinem Turm, da ist der Weisheitszahn, der immer noch gern „Uniriese“ genannt wird. Ich halte den Augenblick fest mit meiner handlichen Digitalkamera. Die Stadt umrahmt vom frischen grünen Blattwerk. Ein Heißluftballon schwebt darüber. Auf dem Hügel flitzen Hunde über die Wiese einem Stock hinterher. Ein paar Leute sitzen auf einer Decke und genießen den Blick auf die Stadt.

So habe ich damals auch den Leipziger Süden kennengelernt. Mit seinen Altbauten und den Brachen dazwischen, den Menschen, die geschäftig und gesellig in den Straßen laufen, radeln und sitzen; die die noch vorhandenen Lücken mit Leben füllen. Damals mit ihm zusammen und glücklich bis auf ein paar Schutthaufen, die sich schon angesammelt hatten. Die Frage keimt in mir auf, warum Enttäuschungen schwerer wiegen als Liebesbeweise? Vielleicht, weil bei ersterem unfruchtbares wüstes Land zurückbleibt, das nicht mehr mit Pflanzen überwuchert wird, sondern da gerade dieser Schutt heraus schaut. Insbesondere, wenn man die Probleme nicht benennt und klein meißelt mit Aussprachen, so wie es in einer Partnerschaft doch eigentlich gut und richtig wäre. Soweit waren wir aber noch nicht und die Stadt tat ihr übriges uns einander fremd zu machen.

Der Schmetterling fliegt mir vor die Linse, erst bunt fluoreszierend mit aufgeklappten Flügeln, dann verschmilzt er mit dem dunklen Hintergrund. Unscheinbar, so habe ich mich auch immer gefühlt und ich wollte gesehen werden und ich wollte mich entwickeln, weiter gehen, war auf der Suche, immer getrieben nach dem nächsten fremden Augenpaar, der nächsten Iris in der ich mich spiegelte und die in einem Kopf ein Bild von mir festhielt. So viele interessante Lebensentwürfe, ein Versprechen von Freiheit und Selbstentfaltung lag in der Luft und ich öffnete meine Flügel, mit denen ich lange, lange Zeit zusammengeklappt auf einem Blatt mit dem Hintergrund verschmolzen war. Ich betrachtete mich durch die Augen der anderen und entdeckte mich neu. Als wenn mein Bewusstsein ein neues Zimmer gebaut hätte, vielleicht sogar ein neues Haus für mein Selbst.

Dieses Bild von dem Schmetterling, der als Raupe lebt und nie etwas anderes gekannt hat, bis er sich dann verpuppt und mit Flügeln aufwacht und ohne einen Moment zu zögern los fliegt, sich auf Blüten niederlässt, dort trinkt und weiter fliegt. So habe ich mich in der Stadt entpuppt und bin durch die Straßen geflogen, von Musik berauscht, von Menschen berauscht, von der Nacht berauscht. Ein Nachtfalter, geleitet vom Mond. Und auch die Beziehung zu meinem Freund hatte sich gewandelt. Wir sind nicht dauerhaft zusammen gezogen. Statt dessen habe ich mir eine Wohngemeinschaft gesucht, mich neu eingerichtet und mein inneres Zimmer in die äußere Welt platziert. Ich habe angefangen Gedichte zu schreiben beflügelt von einer Muse. Gefühle des Ankommens und des Abschieds begleiteten mich auf Schritt und Tritt.

Ich zeige meinem besten Freund das Foto des Schmetterlings auf dem Display und er sagt: „Wow, gut erwischt.“ Ich lache herzlich. Er schaut mich an wie er mich immer anschaut, offen und freundlich, bis auf den Zeitraum in der ich mich von ihm löste und er mir nach unserer Trennung vorwarf: „Du hast mir einen Dolch ins Herz gestoßen, ich wollte mit dir alt werden.“ Ich war damals so zerrissen, zwischen dem was war und dem was ich mir ausmalte, was mein Leben sein könnte. Ich war getrieben von dem Gedanken, dass andere mich besser verstehen, dass da jemand ist der mehr zu mir gehört. Ein Versprechen der unbekannten Zukunft schwebte im Raum. Ich war ungerecht meinem Partner gegenüber und mein Gefühl hat sich aufgemacht diese neue Räume zu entdecken, raus aus dem Schutt der Worte, die in meinem Kopf schwirrten und ihn schlecht machten und seine Vorzüge in den Dreck zogen.

„Leipzig ist passiert.“, so sage ich mir aber ist nicht eher eine Metamorphose in mir ausgelöst worden? Oder ist mein Ich einfach gewachsen durch den erweiterten Raum außen und innen, durch die Sinneseindrücke und Begegnungen, durch die neuen Möglichkeiten? Ich fotografiere, um die Erinnerungen in meinem Kopf mit der sogenannten objektiven Wirklichkeit abzugleichen. Dabei bestimme ich doch den Bildausschnitt, die Tiefenschärfe, die Helligkeit, sogar die Farbe, in der das Bild von der Kamera festgehalten wird. Dann schaue ich mir die Fotos auf meinem Computer an und erinnere mich, wie es war, sie zu machen, erinnere mich auch an den Moment und auch an was ich dabei gedacht habe, an das Gefühl, der Warmherzigkeit unter Freunden, an das Gefühl der Neugier unter mir noch fremden Leuten. Immer habe ich den Wunsch mich zu erinnern und daran zu wachsen. Wie ich auch an der Freundschaft mit diesem Menschen wachse, dem ich weh getan habe und der mir verziehen hat und jetzt Seite an Seite mit mir auf diesem Hügel aus Schutt steht und die Aussicht auf die Stadt genießt. Mit all unseren Wünschen, Vorstellungen und Träumen angereichert ist unser Bild dieses Ortes und was die Zukunft bringt ist nicht Schicksal sondern Entscheidung.

Johanna Blau 4.6.2018