Über Sterbende Einhörner

Warum müssen so oft Einhörner sterben? Es gibt so viele Bücher, Filme und andere Kunstwerke, in denen das „Gute gegen das Böse“ antritt und ein Bild dafür, dass es ganz finster aussieht, ist, wenn ein Einhorn bedroht oder gar getötet wird.
In dem Buch und Film „Das letzte Einhorn“ verlässt das Einhorn auf der Suche nach den anderen seinen Wald. In dem Film „Legende“ macht eine junge Frau durch ihre Berührung ein Einhorn sterblich und böse Mächte töten es daraufhin. Bedrohliche Finsternis ist die Folge und das Böse steht kurz vor der Machtergreifung. Dieses Bild: Der Inbegriff der Reinheit, Unschuld gepaart mit Magie und Macht liegt am Boden, des Horns beraubt. Dann die schlimmen Auswirkungen auf die Umgebung, sogar die gesamte Welt.

Warum fühle ich mich so von diesen Geschichten angezogen? Warum berühren sie etwas tief in mir? Das Einhorn als Fabelwesen ist wie oben beschreiben eine Paarung aus Macht und Güte, es ist das pure Gute in der Welt, wenn mensch so will. In der Geschichte „Das Letzte Einhorn“ wissen die Leute, die dem Fabelwesen begegnen, gar nicht, wem sie gegenüberstehen, als Mummy Fortuna es im Schlaf einfängt, muss sie ihm ein falsches Horn anzaubern, damit die Menschen nicht nur eine weiße Stute sehen. Das Magische und das ausnehmend gute haben keinen Raum mehr in der stoischen Menschenwelt. Erst der Zauberer Schmendrick, der es befreit und dann die Räuberin Molly Gru sehen das Fabelwesen, als das was es ist.

Ich frage mich, ob ich ein Mensch wäre, der ein Einhorn sehen könnte. Sehe ich auch das Gute in den Menschen, die mir begegnen, oder haben meine gemachten Lebenserfahrungen, mich der Fähigkeit beraubt, die gute Magie in den anderen zu erkennen? Ich muss etwas darüber nachdenken. Offen gehe ich auf mir unbekannte Menschen zu, aber ich habe meine Schubladen und Kategorien, in die ich Menschen einsortiere, sobald ich ihnen begegne. Die Person wird mit anderen Leuten verglichen, die ich schon kenne und mit denen ich Erfahrungen gesammelt habe. Die Bereitschaft, darüber hinauszuschauen und der Person, die mir begegnet eine Chance zu geben, habe ich in den meisten Fällen. Nur wandelt sich mein Kompass gerade, und ich lasse mir nicht mehr so viel erzählen und gefallen. Die Kompassnadel soll wegzeigen von Menschen, die mich als emotionalen Mülleimer brauchen wollen oder mich anderweitig ausnutzen wollen. Ist nun meine Angst begründet, dass ich dadurch die Magie der Menschen und auch Tiere nicht mehr sehe, weil ich mir nicht mehr so viel erzählen und gefallen lassen will?

Was ist mit der jungen Frau, die in „Legende“ das Einhorn durch ihre Berührung verletzbar macht? Könnte das nicht für die Erfahrung stehen, als Person von anderen enttäuscht zu werden, von denen ich dachte, sie sie tun mir etwas Gutes? Die junge Frau hat keine bösen Absichten, sie möchte nur eine schöne Erfahrung machen, aber das hat die schlimmsten Auswirkungen auf das Einhorn. Es ist so, als würde ein junger Liebhaber sich keine Vorstellungen machen davon, wie tief die erste Liebe seines Objektes der Begierde sein könnte. Er will erobern, sie will nur ihn. Die Ernüchterung und die tiefe Wunde an der Stelle, wo vorher ein gesundes, starkes liebendes Herz schlug, ist mit dem Bild eines nun sterblichen Einhorns, denke ich gut eingefangen. Das Einhorn ist nun verletzlich für alle bösen Mächte und die Verlassene ist offen für alle, die da kommen, um sie nochmals zu verletzen. Das ist das, was sie erlebt hat, das ist das, was sie kennt. Ihre innere Stimme wird ihr sagen: „Es ist so passiert, ich verdiene nichts anderes. Her mit den anderen Verlorenen Seelen.“

Die Wellen im Meer sind so schön, wie die Mähnen abertausender Einhörner, die sich bis kurz vor die Wasseroberfläche trauen und da ihre Schönheit, denen preisgeben, die sehen und dem, der sie gefangen hat. Das Einhorn, Molly Gru und Schmendrick haben die Einhörner gefunden auf der Suche nach dem Roten Stier. Der Rote Stier wird versuchen, das Einhorn ins Meer zu treiben zu den anderen, daraufhin lässt Schmendrick seine Magie „tun, was sie will“ und aus dem Einhorn wird eine junge Frau, wie gerade geboren und so magisch noch, dass sich nichts in ihren Augen spiegelt. Haggard nimmt sie zu sich, lässt Schmendrick als Hofnarr und Molly Gru als Köchin für sich arbeiten, sein Sohn verliebt sich in die Lady Amalthea und bringt ihr die Trophäen seiner Heldentaten, da weiß sie schon nicht mehr, was sie so traurig macht beim Anblick eines abgeschlagenen Drachenkopfes. Letztlich werden sie zusammen, die Zeit, den Raum und den Roten Stier besiegen. Sie befreien die Einhörner, was den Tod für Haggard bedeutet. Der Alte „Liebhaber“, der sie alle haben wollte für sein Vergnügen, wird mit seiner steinernen Festung zerfallen, die von den trampelnden Hufen seiner vormals Gefangenen zum Einsturz gebracht wird.

Das Einhorn wird während der Suche immer mehr zum Menschen, sie verliebt sich in Prinz Lir. Sie vergisst oft, was der Grund ihrer Reise war. Sie erkennt sich selbst nicht mehr. Wie oft, wenn wir uns verändern, verlieren wir uns gefühlt zeitweise. Die Transformation wie in einem Raupenkokon, die Form, die uns danach ausmacht, das alles ändert, wer wir sind. Oder ist nicht, wer wir sind, schon vorher festgelegt, wir werden nur endlich unser wahres Selbst? Oder ist nicht doch die Wandlung im Außen Grund für die Wandlung im Innen?

Was ist die Antwort darauf für mich? Meine Handlungsmuster machen mich zu großen Teilen aus, sie beruhen auf Erfahrungen, die ich gemacht habe. Um dieses Muster zu ändern, was mein Wunsch ist, mache ich sie mir bewusst. Und ich mache mir bewusst, welche Muster ich als Ziel für mich wähle. Das Ziel für mich heißt: sichere Bindungen eingehen, mit Menschen, denen ich vertrauen kann und die sich auf mich gefühlsmäßig einlassen können. Also in anderen Worten: ich möchte Liebe empfangen und geben können. Und das ohne, dass frühere Verletzungen meinen Gefühls-Kompass beeinträchtigen können, beziehungsweise ich mir dieser möglichen Beeinträchtigung bewusstwerde und gegenhalten kann.

Um mit der Metapher des Einhorns zu sprechen, dass sich zu Lady Amalthea wandelt, so die Liebe erfährt und sie letztlich auch erwidern kann: In ihrer neuen Form legt sie alte Muster weitestgehend ab, findet neue passendere für sich. Als sie ihre eigentliche Form wiedererhält und ihre Macht zurück über Leben und Tod, behält sie das Gefühl Liebe in sich. Sie ist für immer verändert, verwandelt. Sie ist das erste Einhorn, das Liebe kennt. Sie belebt Prinz Lir, der als Held für Lady Amalthea gestorben ist. Sie verabschiedet sich von ihm und geht zurück in ihren Wald, in ihre gewohnte Umgebung. Die Liebe als unsterbliche Kraft, die alle Formwandlung überdauert. Ein frommer Wunsch oder ein mögliches Ziel?

In „Legende“ wird das Böse besiegt, die Sonne kehrt zurück. Das weibliche Einhorn erwacht wieder zum Leben, nachdem es sein Horn zurückbekommen hat. Es ist wieder vereint mit seinem Partner. Ende gut, alles gut. Im Märchen muss das Böse besiegt werden, im Innen und im Außen, damit das Gute gedeihen kann. In meiner Lebensrealität muss ich die Balance finden zwischen Vertrauen und Vorsicht, zwischen Bindung und Autonomie, zwischen dem Fokus auf mein Selbst oder auf mein Gegenüber. Hat mir die Metapher des bedrohten und sterbenden Einhorns dabei eine Einsicht gebracht?

Meine Transformation kann nur im Austausch mit anderen vonstattengehen, in einem einsamen Elfenbeinturm werde ich mir zwar Ziele setzen können, aber erreichen werde ich diese nur indem ich mich auf andere einlasse. Der Gefahr der neuerlichen Verletzung setze ich den Schutz und die Macht meiner eigenen Magie entgegen. Mein Bauchgefühl ist ein wichtiger Indikator für wohltuende, wertschätzende Menschen und Erfahrungen. Begegne ich Menschen unaufgeregt und in einer entspannten Gefühlslage, bin ich in der Lage sie zu besser lesen und zu erkennen, was sie für Absichten mir gegenüber hegen. Ich erkenne dann auch besser ihr Wesen und was ihre Magie ausmacht. Darauf reagiere ich.

Und möglich wird das Kennenlernen von Lieblingsmenschen, das Ausbauen von schon bestehenden Bekanntschaften, das Finden der Personen, mit denen ich Bindungen eingehen möchte. Das ist mein einzigartiger Weg zu Vertrauen und Liebe in dieser Welt. Und ich bin mit Verena König einer Meinung. Sie hat das Buch: „Trauma und Beziehung“ geschrieben, welches ich gerade lese. Und sie schreibt: „Ich wünsche mir, dass all die Menschen, die im Stillen leiden, meisterlich kompensieren oder mit letzter Kraft funktionieren, aus dem Schatten ins Licht treten können, wo sie gesehen werden, und wo heilsame Veränderung stattfinden kann.“ Sie fragt sich und auch mich als lesende Person, wie anders unsere Gesellschaft wohl wäre, wenn sich alle Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen würden. Meiner Meinung nach, wäre dann Heilung im Innen und im Außen möglich. Und endlich auch Frieden.

Johanna nion Blau, 10. März 2025

Übergang

Wie auf Kies laufe ich, entlang am ewig gleichen Sandstrand
Überholt und doch aufgegeben
Meine Narben weisen auf die nächste Wand
Beschrieben aber ich kann nichts lesen
Hoffe auf das nächste Abenddämmern
Mein Vertun vergisst so herrlich viel
Warum ich da bin, ist mir ein großes Rätsel
Vielleicht als Geleit im Offenen Spiel


Tanzen ohne Worte zu erfinden
Strecken ohne irgendwo hin zu wollen
Schöpfen aus vollen Kannen
Dabei Humor wie Weihwasser versprühen
Menschen zutraulich umwerben
Traumgeschwungene Linien verbinden
Tränen feiern wie ein Hochzeitsfest
Den Tag mit Blauregen umwinden


JB-08-2020