Sicht bei Nebel (PMS)

Wie ein Nebelumhang, klamm, wettergegerbt, legt sich ein Tuch um mein Herz. Wohlbekannt. Und herzlich lege ich meine Hand darauf.
Wie ein altes Fischernetz ohne sichtbares Muster, mit Leerstellen und mit Muschelschalen behaftet, denkt mein Hirn heute den gestrigen Tag. Meine Erinnerung beinhaltet Wolken, da wo Sonne schien.

Verkehrte Welt: Im Fallen deckt sich das Dach von selbst ab, die Möbel wandern nach oben. Was sichtbar bleibt, ist der Hauskamin, in dem das letzte Feuer lodert. Prometheus nimmt es an sich für später.
Wie noch nie, sah ich die Menschen fliegend oder fallend Halt verlieren.
Wie noch nie, habe ich dabei gedacht: Falle oder fliege ich? Gerade im Träumen ist der Unterschied schwer auszumachen, wie Feuer im Sturm. Gerade im Denken vergesse ich Kurven zu nehmen, die wichtig, sind für den Sprung nach vorn.
Gedanken heben sich ab, wie die Möwe, welche den Sprung wagt von der Welle auf der sie noch vor kurzem tanzte, hinab in den Himmel.

Ein Wolkenmeer. Die Muster aller Dinge, aller Menschen enthält es und die Möwe schwebt hindurch. Ein Geist, obwohl sie die ist, die lebt.
Fliegend erhebt sie die Erinnerung. In der Schwebe wird ein Traum tragbar.
Das Bild bekommt Tiefe. Alles reift, wird undurchsichtig. Die Wolke verwandelt sich in ein Luftschiff. Die Möwe, setzt sich auf den höchsten Mast.

Selbstvergessen wird das, was ich betrachte, wahr. Ich wünsche dem fallenden Stern einen guten Flug ins Verglühen. Ich wünsche der Welt einen guten Start ins neue …zän. Die Wogen glätten sich. Die Möwe fliegt auf, schwebt hoch über den Wellen, hoch über den Wolken, ihr Schnabel kratzt Sternenstaub vom Universum. Die Funken verglühen auf der Erde. Gedanken an das Ungewohnte Glück.
Vertraut erhebt sich die Möwe. Sie lässt sich treiben von Wind und ihrem Bauchgefühl, der nächste Fisch, die nächste Nähe, die nächste Ruhe vor Augen. Es regnet. Alle Wolkenbilder verformen sich zu Wassertropfen.
Gleiten am Federkleid der Möwe in die Wellen, werden Welle, werden Meer, werden wir.
Wovon träumt eine Möwe, wenn es regnet?

Johanna nion Blau, den 24.08.2025

Die tanzende Figur – Verhältnisse (Text zur Grassi Lesung)

Mich selbst umarmend, wie die Figur „Erwachen“, die ich im Grassi-Museum betrachte, strahle ich meine Gefühle aus in die Welt. Das, was darunter liegt, ohne zu lauern, umarme ich. Das, was dahinter und davor liegt, umarme ich, um zu Hoffen. Selbst gehärtet, geschmiedet, um zu schmelzen. Selbst umschlungen, in der Sonne gebrannt und ummantelt mit diesen Worten.

Auf dem Weg zum Museum. Es sitzen an einer Haltestelle ein Vater und sein ungefähr drei Jahre altes Kind. Gegenüber auf der anderen Seite, ein älterer Mensch im Rollstuhl. Das Kind ruft ihm entgegen: „Hallo!“ immer wieder „Hallo!“ und sagt dann zu seinem Vater: „Er sagt nichts, er spricht nicht mit mir.“ Eine Antwort des Vaters entgeht mir oder bleibt aus. Ich muss schmerzlich lächeln, ob der Versuche miteinander ins Gespräch zu kommen, über die unterschiedlichsten Entfernungen hinweg.

Im Museum steht eine tanzende Figur aus Keramik. Sie wurde erdacht, geformt, gebrannt, glasiert, gebrannt. Sie ist schön anzusehen. Ein Objekt umgeben von Glas. Daneben steht eine Dose, welche ich fast nicht beachtet hätte. Die Bewegung eingefroren in Materie fängt meinen Blick. Später zwei Gazellen, im Sprung dargestellt. Daneben steht auf der Glasscheibe: „Buchstützen in Form springender Gazellen, Bookends, Marcel Bouraine, Paris, um 1925, Messing, gegossen, versilbert, Marmor. …“ Konserviertes Wissen gestützt durch sprintende versilberte Gazellen. Nun im Grassi-Museum ausgestellt ohne Bücher, in ewig gleiche Bewegung gegossen.

In mir bewegen sich die Gedanken: Tanz ist Moment und will erinnert werden, um sich fortzusetzen. Sich bewegende Erfahrungen in Objekte geformt ausgestellt, beobachtet. Ich stelle mir vor, ich sei in Bernstein eingeschlossen, würde Jahrhunderte überdauern, dann wäre aus einer DNS-Probe ein Klon von mir herangezüchtet worden von den Wissenschaftler*innen oder den Unternehmer*innen der Zukunft. Während der Bernstein, der mich enthält, weiter im Museum ausgestellt wird, besuche ich ihn als Kopie meiner Selbst, betrachte ihn.
In einem ewigen Gegenüber sehe ich mich eingefroren in der Zeit, um wiedergeboren zu werden, nach meiner Zeit. Wer bin ich? Subjekt, Objekt, Kopie, Original? In welchem Verhältnis, stehe ich zu mir und der Zeit, in der ich mich befinde?

Ich bin ich. Während ich mich betrachte, gehe ich weiter, ich sehe die tanzende Figur, die Buchstützen, ich fange an zu rennen, heraus aus den Räumen, die Treppenstufen hinunter, vorbei an den Menschen, die in die Glaskästen schauen, vorbei an Statuen, welche mir hinterherträumen. Ich trete auf den Vorplatz des Museums und sehe mich um, ohne die Erinnerungen meines Alten Ichs. Voll von angestauten Potenzialen, renne ich los.

Johanna nion Blau, 08.08.2025, entstanden nach Schreibworkshop im Grassi-Museum

Run Girl Run

You know what I’ve been through
You’ve been through it yourself

Run Girl Run
Put your heart on a shelf
‘Till it is safe to feel again
‘Till you are seen and loved

By yourself and someone else
It is possible, it is a craft
He did never learn

So Run Girl Run
You don’t have to earn:
Love, Attention, Trust or Truth
This is a dead end
U-turn and start again

Run girl Run
Till a bright eye meets you on the way
Wishes you the best
And loves you all the same

Johanna nion Blau, 20.08.2025

Anstoßen

Ich stoße öfter an Dinge.
Oder stoße ich eher Dinge an,
Da ich mich nicht mehr klein mache?
Ich ecke öfter an Menschen an.
Oder stoße ich sie eher ab,
Weil ich mehr ich selbst bin?
Ich fühle mich hingezogen, angezogen, ungezogen, ungelogen.
Und die Menschen, die bleiben, feiern mit denen, die dazustoßen,
Um anzustoßen.
Johanna nion Blau, 18.08.2025

Gemeinschaften – Von den Grenzen der Vorstellungskraft

Die Grenzen des Verstandes brechen auf. Der Verstand, gefüttert von Erfahrung, Kenntnissen und Erlebnissen sträubt sich dagegen. Dann doch der Moment, wo Gefühl und Geist in Einklang mit der Seele existieren. Der Moment, in dem ich mich wohl und sicher fühle. Der Moment, in dem ich planen, lieben und erschaffen kann. Aber ist dies möglich in einer Welt, in der keine Pause vorgesehen ist, keine Kontemplation möglich scheint? Menschen schlafen, stehen auf, arbeiten, essen, arbeiten, üben ihr Hobby aus oder gehen zum After-Work-Event und dann schlafen sie wieder. Das alles ist weitaus komplexer. Menschen haben Familie. Menschen werden krank. Menschen gehen keiner Lohnarbeit nach und leiden vielleicht darunter oder auch nicht.

Mir geht es darum: Wir rennen heute der Zeit hinterher und diese ist dadurch nur noch knapper bemessen, wie es scheint. Es kommt mir so vor, als wären die Zeitdiebe aus Michael Ende’s Buch „Momo“ am Werk. Viele Menschen finden nicht die Muße über ihr Leben, über ihre Träume nachzudenken und darüber, wie sie sich selbst verwirklichen könnten. Sie funktionieren, bis sie es nicht mehr tun. Sie gehen über ihre körperlichen und mentalen Grenzen, um einem Beruf nachzugehen, der nicht ihre Berufung ist. Welche Auswirkungen hat also die Gesellschaftsform, in der wir leben auf uns als Menschen? In diesem Text frage ich mich ehrlich, herzlich und achtsam: Wie verlief mein Arbeitsleben bisher und welche Auswirkungen hat das auf mein Leben? Ich sinne darüber nach, wie eine andere Gesellschaftsform geschaffen sein könnte.

In der Zeit, als ich Abitur machte, traf sich unsere Clique am Rande einer Kleinstadt auf einem von Bäumen umstandenen Spielplatz. Die anderen kifften und tranken, ich beschränkte mich meistens auf Alkohol, um gesellig zu werden. In einem Gespräch mit einem meiner Freunde, ging es an einem Abend um Nationalstaaten. Er fragte mich, warum es sie gibt und wie sie entstanden seien. Ich wusste darauf keine Antwort. Außer die, dass es nun mal so sei. Als ich mich auf sein Gedankenspiel der Welt ohne Grenzen einließ, öffnete sich in meinem Kopf und in meinem Herzen jeweils ein neuer Raum: Die Weltordnung ist menschengemacht, wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst.

Als ich mit 24 Jahren meine Diplomarbeit schrieb, zog es mir noch einmal gedanklich die Füße weg. Riane Eislers Buch: „Kelch und Schwert“ las ich in der Zeit. Ihr Fazit lautete: Krieg ist nicht die natürliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Es gab wohl eine Zeit vor etwa 5000 Jahren, in denen es lange Phasen des Wohlstandes und des Friedens gegeben habe für alle Menschen, nicht nur für die herrschende Klasse. In der Schule im Geschichtsunterricht lernten wir so viel über Kriege, wer sie wann geführt hatte und weswegen und vor allem erfuhren wir viel über die Sieger. Die Phasen zwischen den Kriegen, die Zeiten des Friedens schienen uninteressant. Mein Herz schrie nach dieser Erkenntnis: Leid ist menschengemacht.

Die Welt könnte anders gestaltet sein. Menschen könnten in Frieden miteinander leben. Wir sollten Natur und unsere Umwelt nicht ausbeuten, bis hin zur Zerstörung. Mit diesen Überzeugungen gehe ich heute durch die Stadt, in der ich lebe. Mit dieser Haltung schaue ich mir die Nachrichten an, mit diesen Gefühlen gehe ich arbeiten, werde ich krank und mache weiter, so gut es geht. Die Gesellschaft, in der die meisten Menschen auf diesem Planeten leben: Kapitalismus, Patriarchat, Demokratien, diese Systeme sind nicht selbstverständlich. Wir als Gesellschaft könnten sie an veränderte Umstände anpassen. Auch wenn es schwierig ist und es von den kurzfristigen GewinnerInnen des Systems zusätzlich erschwert wird: Die Systeme, die Menschen geschaffen haben, können Menschen auch wieder ändern, oder? Aber was, wenn wir uns nicht in der Lage dazu fühlen, wenn wir so vereinzelt „gehalten“ werden und so durch Lohnarbeit beschäftigt werden, dass ein einzelner Mensch nicht das Gefühl hat, etwas ausrichten zu können.

Ursula K. Le Guin sagte 2014 bei den National Book Awards in New York: “(…) We live in capitalism. Its power seems inescapable. So did the divine rights of kings. Any human power can be resisted and changed by human beings. Resistance and change often begin in art, and very often in our art, the art of words.”Wir leben im Kapitalismus. Seine Macht scheint unausweichlich. Genauso wie das königliche Recht durch Gottes Gnaden. Jeder menschlichen Macht kann widerstanden werden und sie kann durch Menschen verändert werden. Widerstand und Veränderung fangen oft in der Kunst an, und sehr oft in unserer Kunstform, der Kunst der Worte (Übersetzt von Verfasser*in). Wenn ich ihre Worte lese, bin ich beseelt. In meinem Kopf beruhigen sich die schwer flirrenden Gedanken und mein Herz hört fürs Erste auf zu schreien. Ein Mensch, der schreibt, kann etwas ändern. Sodann ans Werk.

Ich finde mich in einer Zelle wieder, auf der einen Seite in einer Ecke eine Blechtoilette, in der anderen Ecke gegenüber hängt eine Videokamera, die filmt, was ich tue. Die Mitte des Raumes dominiert ein Bett. Oft in den zwei oder drei Tagen in diesem Raum klopfe ich an die Tür, schreie, um mir Gehör zu verschaffen. Es reagiert niemand. Erst wenn ich eine Weile ruhig bin, öffnet sich die Tür. Ich bekomme etwas zu essen.

Der beschriebene Raum befindet sich in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrischen Einrichtung. Ich wurde zwangseingewiesen. Gerechtfertigt? Die Psychose, die ich erlebe, manifestiert sich seit Monaten. Ich höre Stimmen, bin überzeugt davon, dass ich telepathische Kräfte besitze, kann nicht schlafen und auch nicht aufhören zu denken. Das Wahngerüst, welches in meinem Kopf herangewachsen ist, wird in diesem Raum zur gedanklichen Festung. Die Stimmen in meinem Kopf übernehmen die Führung. Ich werde die Inhalte des Wahnsinns, der mich in diesem Raum zuerst besucht hat, wohl mein Leben lang mit mir tragen. Warum war ich da? Es wurde falsch ausgesagt über mich, was die Polizei dazu bewogen hat, mich einweisen zu lassen. Aber selbst, wenn ich getan hätte, was mir vorgeworfen worden war, niemand sollte allein in einen Raum gesperrt werden, allein mit vollgeschriebenen Wänden und der eigenen verwirrten Psyche. Gerade in diesem vulnerablen Zustand sollte ich versorgt und nicht weggesperrt werden.

Es ist passiert. Ich habe diese Grenzüberschreitung und die daraus für mich folgenden Verletzungen überlebt. Ging es darum, mich zu heilen? Das frage ich mich immer noch. Oder ist es nicht eher ein auf Linie bringen, was da passiert? Menschen, die die gesellschaftlichen manchmal nicht einmal niedergeschriebenen Regeln verletzen, werden weggesperrt, bis sie wieder funktionieren? Meinen psychotischen Zustand habe ich einmal so beschrieben: “Ich überspringe die Zäune der gesellschaftlichen Grenzen, wenn sie für mich nicht nachvollziehbar sind.“ Das macht mich für andere unberechenbar und leider auch werde ich dadurch oftmals als gefährlich eingestuft.

Diese Tatsachen bringen mich seit zehn Jahren dazu, durchgängig Psychopharmaka zu nehmen, die Nebenwirkungen haben und meine Organe belasten. Die Lebenserwartung von psychisch kranken Menschen in Behandlung ist rund zehn Jahre geringer als die von Menschen ohne Psychiatrieerfahrung, so habe ich gelesen. Trotzdem nehme ich die Tabletten, um mich selbst zu schützen vor gesellschaftlicher Ächtung, aus Angst vor dem Verlust von Freund*innenschaften und weil ich die Kontrolle über meine Gedanken und meine Gefühle nicht noch einmal in diesem Maße verlieren möchte. Ich kann mir nicht vorstellen in dieser Gesellschaft ohne Psychopharmaka klarzukommen. Der oben beschriebene Absetzversuch ist fehlgeschlagen, trotz langsamen Ausschleichens. Trotzdem kann ich Menschen verstehen, die das Ausschleichen versuchen, der Gefühle wegen, die dann wieder spürbarer werden, ihres Körpergewichts wegen, oder auch wegen kreativer Gedanken, welche dann wiederaufkommen können oder aufgrund anderer Gründe. Ich habe mich für die Medikamente entschieden, obwohl ich in einem linken Stadtteil wohne, wo die Menschen aufgeschlossener sein sollten gegenüber Menschen in psychischen Krisen. Hier werden seit Jahren aber die Lücken zwischen den Gebäuden und die Freiräume in den Köpfen der Einwohner*innen beeinträchtigt, durch Gentrifizierung und durch Spaltungsprozesse innerhalb der Szene.

Eine Frage kommt mir in den Sinn: Ist das Gegenteil von Grenzen, die Freiheit? Freiheit, ein Begriff, der bei der letzten Wahl in Deutschland in so vielen Wahlprogrammen so oft aufgetaucht ist und dessen Bedeutung dadurch so stark ausgehöhlt wurde, dass nur noch leere Versprechen übriggeblieben zu sein scheinen, wenn nicht sogar die Verkehrung der eigentlichen Definition. Für wen ist diese eine Freiheit vorgesehen? Ist es die Freiheit der Lobbyisten für Konzerne Politik zu machen, statt für Bürger*innen, Arbeiter*innen und Menschen mit Behinderung? Vielleicht sollten wir aufhorchen, wenn „die Freiheit“ als hehres Ziel genannt wird und nicht die Freiheiten. Die Freiheiten, die für viele verschiedene Menschen mit verschieden Erlebnissen und Erfahrungen individuellste Bedeutungen haben. Die Freiheit zu reisen, ist zum Beispiel für viele in Deutschland lebende Menschen nicht selbstverständlich. Dabei ist es für Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit immer noch so leicht wie für wenige andere, in anderen Ländern Urlaub zu machen ohne Visum. Diese Freiheit war doch auch ein entscheidendes Kriterium für viele Staatsbürger*innen der ehemaligen DDR auszureisen und hat diese Diktatur 1989 mit geholfen zu Fall zu bringen und die innerdeutschen Grenzen zu öffnen.

Sieben Jahre war ich damals alt, habe erfahren welche LehrerInnen bei der Staatsicherheit waren, habe erfahren, dass die Lehrerin, die mir das blaue Pionierhalstuch überreichte, nicht mehr Schulgarten unterrichten wird. In unserem Dorfladen fand ich nach der Wiedervereinigung keine Schokolade mehr, da ich nur die Schlagersüßtafel kannte. Ich habe als Kind erlebt, wie eine staatliche Ordnung innerhalb von wenigen Wochen in sich zusammenfällt und ohne viele Umschweife etwas anderes den leeren Räum, das Machtvakuum, welches entstanden ist, auffüllt. Wie, wenn Pflanzen über Osmose Nährstoffe aufnehmen. Viele Menschen, die älter waren als ich, sich in Ausbildung befanden, einer Arbeit nachgingen, eine Familie hatten, die im gewohnten System fest im Leben standen, haben diese krassen Veränderungen erschüttert bis ins Mark. Das soll keine Entschuldigung sein für die politischen Entwicklungen im Osten von Deutschland. Es ist die Ambiguität der Tatsachen. Die Menschen haben die offenen Grenzen gefeiert, aber die fehlenden Entscheidungsmöglichkeiten, das fehlende Mitspracherecht auf persönlicher, wie gesellschaftlicher Ebene als ein einschneidende Enttäuschung und Grenzverletzung abgespeichert. Viele ehemalige DDR-Bürger*innen erinnern sich an diese Zeit, wie an eine Niederlage und an einen Verlust von Werten, die über die DDR-Regierung hinaus, bewahrenswert gewesen wären.

Als Kind habe ich einen festen Zusammenhalt unter den Menschen in meinem Dorf erlebt. Ich weiß nicht, ob das gelebter Sozialismus, aus Not geborenen Solidarität oder kindliche Verklärung von Erinnerungen waren. Die Erntezeit war für mich eine magische Zeit, es gab Gemüse wie Schoten und Möhren aus dem eigenen Garten und die Strohballen von den Feldern wurden von den Dorfleuten in die Scheune auf unserem Hof verfrachtet. Ich habe dieses Gefühl des Zusammenhalts und diese Freundlichkeit untereinander für mich immer bewahren wollen. Und sooft mir das ein Nachteil war, im „System der Ellenbogen“, so oft sagte ich mir: „Ich werde nicht selbst egoistisch und ignorant, weil sich andere mir gegenüber so verhalten.“

Meine aktuelle Lage: Ich bin krankgeschrieben, mein Antrag auf berufliche Rehabilitation wurde abgelehnt, der Rentenantrag ist seit vier Monaten in Bearbeitung. Ich bin in einen Zustand des Wartens. Das Gute daran ist, dass ich Zeit habe für mich. Das lässt mich langsam gesunden. Ich werde verhaltenstherapeutisch unterstützt und nutze Ergotherapie. Die Zeit, die ich für meine Aktivitäten und Termine habe, reicht aus, alles in Ruhe zu machen. Der Stress in meinem Leben reduziert sich auf ein nie gekanntes Minimum und meine sonst so häufigen Infekte gehören der Vergangenheit an. Ich merke, wie gut mir diese Zeit tut. Der Faktor Zeit, welcher purer Luxus ist, in der gegenwärtigen westlichen Kultur. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Doch das schlechte Gewissen, nichts Nützliches oder „Sinnvolles“ zu tun, wird immer leiser und leiser. Ich tue etwas Sinnvolles für mich, ich heile und bin immer zufriedener auch mit mir.

Die äußeren Zwänge fallen so gut wie weg. Dadurch merke ich, dass ich für die „normale“ Arbeitswelt nicht gemacht bin. Im bestehenden „Turbokapitalismus“, wird von allen alles verlangt, inklusive Erreichbarkeit rund um die Uhr. Das kann ich nicht mehr leisten. Die Krankheit war bisher mein Stopp-Zeichen. „So geht es nicht weiter!“, sagte sie eindringlich zu mir, mit Symptomen, die mich einschränkten, in dem, was ich tat. Ich bin im beruflichen Kontext schon häufig aussortiert worden. Meine persönliche Grenze, was ich mit mir machen lasse im Berufsleben, liegt da, wo ich gemobbt werde, da wo ich keine Unterstützung mehr erfahre, sondern, mir das eigentliche Arbeiten erschwert wird. Und das ist mir passiert. Ich wurde ausgenutzt im Billiglohnsektor und in Kontexten ehrenamtlicher Arbeit. Ich wurde unten gehalten von sogenannten Visionären und Pionieren.

Es ist eine Sache, sich persönlich zu entwickeln im Kapitalismus, eine andere, im Patriarchat beruflich als weiblich wahrgenommene Person die passende Nische zu suchen. Mein Vorhaben war es, eine Umschulung anzufangen. Dies wurde von der Rentenversicherung abgelehnt mit der Begründung: „…, weil keine Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit besteht und Ihr Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erhalten und auch ein anderer Arbeitsplatz nicht erlangt werden kann.“  Diese Aussage hat mich in der Depression tief getroffen. Diese Aussage war wie ein Urteil über mich als Mensch, nicht nur über mein Arbeitsleben; und das nach Aktenlage. Die Begleitumstände wurden meiner Meinung nach nicht berücksichtigt. Der Mensch hinter der Diagnose wird nicht gesehen vom Menschen am Schreibtisch.

Wenn es um Effizienz gehen würde oder um Wirtschaftlichkeit, warum werden dann so viele schon erkrankte Menschen im Billiglohnsektor „verheizt“? Auch heute während einer langsam abklingenden Depression, bin ich überzeugt davon, dass ich eine Arbeit gut ausführen kann, wenn die Faktoren für mich optimal sind. Und das will ich tun: Arbeiten, meinen Beitrag leisten. Auch wenn ich den vorherrschenden Kapazitismus („Es zählt nur die Leistung, die du erbringst, nicht du selbst.“) in diesem Land kritisiere, ich ziehe Selbstwert aus Arbeit. Vor allem in einem gut eingespielten Team und mit Aufgaben versorgt, die mich herausfordern, fühle ich mich wie ein Otter im Wasser. Das möchte ich nicht missen.

Die optimalen Bedingungen herrschten bisher in meinem Freiwilligen Ökologischen Jahr, welches ich nach meinem Studium absolviert habe. Ich wollte vorsichtig ins Arbeitsleben starten, nachdem ich meine erste psychische Krise beim Schreiben der Diplomarbeit erlebte. Das Team auf Arbeit war wertschätzend, hat zusammengehalten, die Chefin hat mich gut betreut, so dass ich auch für mich schwierige Aufgaben gemeistert habe. Mir wurde geholfen, mich auszutesten und meine Hürden zu überwinden. Die Grenzen, die ich mir selbst gesetzt habe, konnte ich gut verschieben in dieser Zeit, die auf diese krasse erste persönliche Krise folgte.

Nach dem Freiwilligen Ökologischen Jahr startete ich in den ersten Arbeitsmarkt und das hoch motiviert. Auch über die Entlohnung meiner Stelle freute ich mich. Ich hatte noch nie so ein hohes Einkommen erzielt. Meine erste Lohnarbeit leistete ich als Support-Mitarbeitende mit 40 Wochenstunden Arbeitszeit plus Bereitschaftsdienste. Das schaffte ich zwei Jahre lang gut, dann begannen Mobbing und die bestehenden Bedingungen an mir zu zehren. Ich bekam ein Burn-out, also eine Erschöpfungsdepression, diagnostiziert. Die Psychose, welche sich entwickelte, daraufhin, durch Einsamkeit und einen Absetzversuch meiner Medikament verursacht, brachte mich auf die geschlossene Station. Nach der akuten Krise hatte ich jahrelang mit Depressionen zu kämpfen und als ich mich wieder aufgerappelt hatte, war es sehr schwierig eine Arbeit zu finden.

Ich hatte einige Vorstellungsgespräche nach der zweiten akuten Krise, mit meiner chronischen Erkrankung und Behinderung ging ich offen um. Bei einem Gespräch schrie mich der Chef der IT-Firma regelrecht an, ich sollte doch meinen Schwerbehinderten-Ausweis loswerden, da ich sonst in dieser Branche nie Arbeit fände. Und es stimmt, die Firmen bezahlen in der Regel eher die Ausgleichszahlungen, als Menschen mit Behinderung einzustellen.  In dieser Form und anderen wurde ich daran gehindert am Arbeitsleben teilzuhaben. Obwohl Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung in Deutschland ein gesetzlich geregeltes Recht ist.

Aber eben nicht nur in der Privatwirtschaft ist die Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt ein Problem. Auch nach der medizinischen Reha, wo mir der Oberarzt die Möglichkeit einer berufliche Reha in Aussicht gestellt hatte, bin ich regelrecht zusammengebrochen, als durch die Rentenversicherung dieser Antrag abgelehnt wurde. Das weitere Prozedere für mich, wäre ein Widerspruch gewesen. Da mir das Schreiben nicht schwerfällt, hatte ich auch einen Widerspruch parat. Die Hürde hier war für mich die monatelange Unsicherheit, ob der Widerspruch durchgehen würde und ob ich am Ende die gewünschte Umschulung bekommen würde oder doch eine Weiterbildung. Natürlich gibt es wichtige Vereine, wie den Sozialverband VdK Deutschland e.V., der Menschen bei solchen Anträgen unterstützt und auch klagen kann in ihrem Namen, falls der Widerspruch abgelehnt wird. Aber zu diesem Zeitpunkt bin ich noch nicht Mitglied gewesen und habe nicht das nötige Geld gehabt, eins zu werden.

Die Ebenen hier: die persönliche Ebene, mit Hürden, die ich überwinden möchte, was sich aber aufgrund meiner Biografie, meiner Erfahrungen und meiner Einschränkungen nicht einfach gestaltet. Die zwischenmenschliche Ebene, mit ihren Hürden im Berufsleben, Chefs, welche wollen, dass etwas funktioniert, egal wie und die nicht viel von Förderung der Mitarbeitenden halten, wenn sie während der Arbeitszeit passieren soll. Wenn jemand geht, gibt es reichlich Nachschub im Bereich „Human Ressources.“ Die gesellschaftliche Ebene mit ihren Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen, die Menschen behindern, an der Gesellschaft ihren Wünschen und Stärken entsprechend teilzunehmen. Die Gesellschaftsform Kapitalismus in der alle zu funktionieren haben, egal wie. Bis sie „ausgebrannt “ sind oder abgestumpft sich selbst und anderen gegenüber. Das Patriarchat, welches weiblich wahrgenommenen Menschen, an die „Gläserne Decke“ stoßen lässt, oder über die „Gläserne Klippe“ stößt.

Es könnte doch so anders sein. Weg von der Normativität, der Norm, weg von der gepriesenen Normalität, an die sich alle anzupassen haben. In einer Reportage des BR: „Neurodiversität – Wie normal ist anders“, hat der Journalist Manuel Stark Menschen mit Neurodivergenzen interviewt und sich dabei erfrischend anders eingebracht. Diesen Beitrag habe ich sehr positiv aufgenommen, weil es eben nicht nur um Einschränkungen gehen sollte, sondern um Stärken von Menschen mit ADHS, Autismus oder Legasthenie. Es ging vor allem um die Personen. Niemand hat gesagt, dass er*sie jetzt alle im Spektrum repräsentiert. Sondern es handelte sich um Portraits von Menschen, die unter anderem neurodivergent sind. Diese Art der Individualität ist meiner Meinung nach sehr unterstützenswert. Jede Person hat Schwächen, Stärken, Besonderheiten. Auch für Unternehmen wäre es von großem Vorteil, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind und ihr Denken, Fühlen, Handeln zu respektieren. Wir alle haben unzählige, persönliche Potenziale, die gefördert werden wollen.

Vor allem auf der zwischenmenschlichen Ebene bin ich für verbindendes Miteinander, für Offenheit und das Hinterfragen der eigenen Vorurteile. Natürlich sind Schubladen da, in die Menschen zuerst gesteckt werden. Die Kunst ist aber, sich dessen bewusst zu sein und Denkmuster gezielt zu hinterfragen. Die eigene Begrenztheit ist ein Luxus, den wir uns schon lange nicht mehr leisten können. Zu viele schöpfen Wert aus Vorurteilen, Hass und Ängsten. Was hat uns in der Vergangenheit als Menschheit vorangebracht?

Es waren Personen, die offen miteinander kooperierten, auch zusammen Projekte ins Leben riefen. Es waren Personen, die in Gruppen gemeinsame Erfahrungen machten. Dieses Verhalten wird uns durch die Zeit der politischen Umbrüche und Tabubrüche bringen. Dies macht uns auch zukunftsfähig, davon bin ich überzeugt. Und nicht nur ich. Darüber schreibe ich in meinen Texten, meinen Gedichten, davon spreche ich mit meinen Lieben und Menschen, die ich noch nicht kenne.

Mir ist es wichtig, nicht nur „gegen Etwas zu sein“, nicht nur Grenzen zu setzen, gegen das, was ich nicht will, was ich als unmoralisch, verwerflich und lebensfeindlich einstufe. Mir ist es wichtig, mich für meine Überzeugungen einzusetzen. Meine inneren Grenzen möchte ich überwinden, offen auf Personen zuzugehen, in Gesprächen auch zuzuhören und nicht nur meine Meinung verlauten lassen. Darüber hinaus möchte ich in meinen Texten zum Nachdenken anregen.

Utopien sind für uns überlebenswichtig. Das wonach wir streben, haben wir vielleicht noch nie erfahren: Eine Gesellschaft, in der Menschen tauschen, was sie brauchen oder nach Sinn der Commons. Gemeingüter, die gemeinsam angeschafft werden. Das, was alle selten brauchen, wird geteilt und auch die Wartung solcher Geräte übernimmt die Gemeinschaft. Von Bohrmaschinen über Rasenmäher zu Zeitungsabos und Generationenhäusern die Vielfalt der Commons ist nur durch die Vorstellungskraft der Gemeinschaften begrenzt, die sie nutzen. Elinor Ostrom und Silke Helfrich sind zwei Namen, die für mich mit der Wissenschaft rund um die Commons fest verknüpft sind.

Viele Ideen in diese Richtung werden schon lange in realen Gemeinschaften umgesetzt. Wir kennen die Lösungen für viele unserer heutigen Probleme und wenden sie auch so gut es geht an. Doch werden wir heute schlecht oder gar nicht auf der politischen Ebene unterstützt. Vereine, die wichtig sind, wie der Mosaik e.V. in Leipzig, der sich um die psychosoziale Versorgung von geflüchteten Menschen kümmert, müssen um ihre Existenz bangen, weil Förderungen durch die Stadt und das Land Sachsen auf der Kippe stehen. In Sachsen ist die Finanzierung vieler Vereine gerade nicht gesichert.  Gegen Menschen, welche sich in Vereinen engagieren, wird von oberster politischer Seite her gehetzt. Es wird untersucht, ob Gelder „gerechtfertigt“ seien. Die Hürden, die engagierten Menschen in den Weg gebaut werden, reichen immer höher. Es braucht viel Energie sich dem entgegenzusetzen, zum Beispiel indem alternative Förderungen gesucht und beantragt werden oder freiwillige Helfende zu betreuen, kurz: die Vereine am Leben zu erhalten. Das kostet Zeit und Energie.

Wir befinden uns, wie Robin Wall Kimmerer in ihrem wunderbaren Buch „Geflochtenes Süßgras – Die Weisheit der Pflanzen“ schreibt, gesellschaftlich an einem Scheideweg. Entweder gehen wir den Weg der Ressourcenausbeutung und Ausbeutung unserer eigene Spezies weiter, was zur Auslöschung des Lebens auf diesem Planeten führen kann, oder wir entscheiden uns für eine Wende hin zum „grünen Weg“. Dieses Bild der Weggabelung: Auf der einen Seite alles, was Menschen angerichtet haben und anrichten auf der Welt: Kriege, Verwüstungen, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten. Auf der anderen Seite, eine üppige begrünte Stadt, in der Gemeinschaften sich, soweit es möglich ist, selbst versorgen, miteinander handeln und für die bestehenden Probleme gemeinsam Lösungen erarbeiten.

Diese Vorstellung ist es auch, die mich schreiben lässt. Diese Utopie ist es, die mich antreibt. Es existieren Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Wir können es angehen für alle ein besseres, anderes, vielleicht noch unvorstellbar schönes Leben zu ermöglichen. Die Begrenzung in unseren Köpfen dahingehend, lassen sich gut durch Literatur, durch Gespräche und durch Träumereien aufbrechen. Meine Hoffnung besteht darin, dass genügend Menschen in diesem Land, die Zeit finden, die Grenzen der persönlichen Entwicklung, die äußeren Hindernisse und die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft zu überwinden.

In Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ steckt eine Lösung, die ich versuche für mich umzusetzen. Ich möchte nicht der Altersrente hinterherschuften oder einem unerreichbar weit entfernten Ziel: viel Geld, viel Freizeit, etc. Mein Ziel ist es, jeden Tag achtsam und bewusst zu erleben. Ich strebe an, jeden Tag etwas zu tun, was mir guttut, und jeden Tag etwas, was anderen in irgendeiner Form helfen könnte. Mein Ziel ist es, bewusst das Hier und Jetzt zu erleben.

Ich genieße gerade den Luxus an meinem Schreibtisch zu sitzen, an meinem Sonnenfenster und die Zeit zu haben, zu schreiben, zu erschaffen. Das wünsche ich mir für alle, die auch diesen Drang kennen, zu schreiben. Das wünsche ich mir für alle, die künstlerisch tätig sein wollen. Mögen sie die Möglichkeit haben, sich auszudrücken, sich selbst zu verwirklichen. Unser aller Zufriedenheit würde dazu beitragen, die Grenzen der bestehenden Ordnung sprengen. Und dies wäre für den gesamten Planeten, mit allen Pflanzen, Tieren und Menschen darauf eine Wohltat.

Quellenangabe:

  • Michael Ende: Momo, oder, die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. München: DTV, 1988.
  • Riane Eisler: Kelch und Schwert. Von der Herrschaft zur Partnerschaft. Weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte. München: Goldmann Verlag, 1993.
  • Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Aufbau Verlag, 9. Auflage, 2024.
  • Heinrich Böll: „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Aus Heinrich Böll, Werke, Band: Romane und Erzählungen 4, 1961-1970, S. 267-269. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. (der Text ist im Internet zu lesen)
  • Silke Helfrich, David Bollier und Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Die Welt der Commons. Muster Gemeinsamen Handelns. transcript Verlag, Bielefeld, 2015.

Text übers Versuchen

Es gab eine Ausschreibung vom edit Magazin und der rotorbooks Buchhandlung in Leipzig. Mensch sollte einen Essay zum Thema „Grenzen“ einreichen. Ich habe es versucht, habe einen Versuch darüber geschrieben, wie ich zu leben, zu überleben versuche in der Arbeitswelt, in der Welt an sich als Mensch, als mich antreibende Kraft, und ich habe darüber geschrieben, was mich hindert. Diesen Text mag ich vor allem, weil ich ihn eingereicht habe. Ich habe mich getraut, etwas zum Thema „Grenzen“ zu konzipieren, zu schreiben, einzureichen und mich damit dann bewerten zu lassen.
Als ich vor ungefähr zwei Wochen meine neue E-Mailadresse mitgeteilt habe, kam die Absage. Das hat mich getroffen. Der Text ist sehr persönlich und zeigt gleichzeitig gesellschaftliche und politische Missstände auf. Dann wieder habe ich beim Schreiben zum Thema nicht diese Stimme gefunden, die ich manchmal schaffe niederzuschreiben, wenn ich drauflosschreibe, ohne thematische Begrenzung und ohne ein gedachtes bewertendes Gegenüber, für das ich schreibe. Ich finde die Sprache, die ich in diesem Essay verwende, hölzern, den Satzbau zu reduziert, die Argumente versuchen für sich zu sprechen, aber schaffen sie das auch? Ich werde diesen Text auf meinem Blog veröffentlichen, ohne weitere Bemerkung außer diesen Text hier übers Versuchen. So dankbar bin ich für die Möglichkeit in diese gefühlte Leere zu schreiben, dann ein paar Mausklicks, es ist online und ihr könnt es lesen. Das macht mich zufrieden. So will ich schreiben. Vor allem so, dass es für mich passt. Wenn dann Menschen, was damit anfangen können, ist es wunderbar.

Liebe Grüße, Johanna Blau

Über ungelesene Bücher

Gerade bin ich aufgestanden, mich erholend von Träumen, die mir meine Lage bewusst machen. Wir fahren mit dem Bus eine Rampe hoch. Wir wollen zum Bahnhof, aber da ist eine große Kerbe im Gebäude, und ein breiter Riss in der Wand verzweigt sich in viele kleinere Risse.

Aus dem Bus steigend betrachte ich die Steine, aus denen der Weg besteht. Einige ragen hinaus, andere sind eingesunken. Wohin soll ich mich wenden, mit meinem Wunsch nach Sicherheit und Orientierung?

Davor war ich im Traum auf einem Feld mit anderen Leuten, wir gingen zu einem Schrank, der reizvoll „vintage“ aussah und keine wirkliche Funktion erfüllte. Ich sah mich um, das Feld lag brach. Ich ging weiter zu der kleinen Landstraße, von Bäumen gesäumt, darunter hohes grünes Gras, vom Wind bewegt.

Mein moralischer Kompass schlägt gerade zu allen Seiten aus, er leitet mich nicht. Verwirrung komplexester Art ist die Folge. Ich springe gedanklich im Dreieck.

Religion ist keine Option, Ratschläge aus dem Freund*innenkreis sind schön und gut, ich bin es jedoch gewohnt, zu wissen, was ich will. Jedenfalls kannte ich dieses Gefühl, beim Treffen von Entscheidungen, beim Diskutieren und beim Schreiben. Nun sitze ich im Nebel und warte darauf, dass eine unsichtbare Hand, mir den Weg in die richtige Richtung weißt. Doch ohne den Glauben an Richtig und Falsch, Schwarz und Weiß, Gut und Böse, würde ich der Hand nicht folgen, auch wenn ich sie sehen könnte.

Was ist das, was ich suche? Moral war in meinem Denken nie bürgerlich. Doch ganz ohne einen Kodex, komme ich nicht aus. Ich möchte meine Haltung begründen können, die teils radikalen Ansichten nicht auf Sand gebaut wissen. Auf ein festes Fundament möchte ich sie stellen. Darum ist es mir wichtig, mich durch Lesen zu bilden und moralisch auszurichten.

In letzter Zeit kaufe ich mehr Bücher als ich lesen kann. Das ist exemplarisch für: ich will mehr Input als ich Verarbeiten kann. Es passiert so viel in der Welt und ich will mir einen Überblick verschaffen. Das Buch „(Ohn-)Macht überwinden. Politische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft“ von Marcus Hawel und Stefan Kalmring herausgegeben hat mir beim Lesen Hoffnung gemacht, mit seiner klaren Sprache und dem Überschauen von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ich hoffe, ich lese es zu Ende und weiß dann mehr.

James Baldwin wurde vor einhundert Jahren geboren. Ich will alle seine Bücher lesen. Zur Orientierung habe ich mir das Buch-Portrait von René Aguigah gekauft: „James Baldwin. Der Zeuge.“ Ich bin so gespannt darauf. In der Connewitzer Verlagsbuchhandlung gab es eine sehr schön arrangierte Auslage der Bücher von James Baldwin. Ich war versucht, da noch mehr zu erwerben. Doch ich sah „Furies. Stories of the wicked, wild and untamed.” Eine Sammlung von Geschichten berühmter Autor*innen, im Virago Verlag erschienen. Ich kaufte es, weil ich mir dachte, es könnte eine gute Sommerlektüre sein. Und Bianca Sparacino‘s: „The Strength in Our Scars. Was uns Kraft gibt und heilt“ habe ich im Hugendubel erstanden. Es sprach mich an mit seinem „Kintsugi“ Cover, graue Schrift und ein golden verkitteter Riss wandert wie ein Blitz durch den Titel.

Über meinem Schreibtisch habe ich ein Regal angebracht, gefüllt mit meinen zu lesenden Büchern. Ich freue mich darauf, sie zu lesen und auf die Einsichten, die sie mir bringen werden. Ich frage mich jedoch: Wann soll ich das alles lesen? Gerade mit meinen Stimmungen, die nicht immer Ruhe und das Gefühl von Sicherheit in mir hervorrufen: Wie soll ich dann in diesem Zimmer vollgestopft mit Büchern eines auswählen und es von vorn bis hinten durchlesen? Ich fange eins an zu lesen, bin begeistert, lege es zur Seite und fange das nächste an zu lesen. Das macht mich unzufrieden.

Ich werde erinnert, daran wie ich früher gelesen habe. Ein Roman, ein Sachbuch, ein Gedichtband parallel. Wenn ich mit einem davon fertig war, kam das nächste. Das war eine gute Abmachung mit mir selbst. Dann habe ich angefangen, Bücher für schlechte Zeiten zu horten. Ich dachte mir, solange ich Arbeit habe, kann ich mir Bücher kaufen, wenn ich wieder arbeitslos sein sollte, kann ich das nicht mehr. Das ich auch noch in einigen Bibliotheken angemeldet bin, zählte für mich nicht als schlagendes Argument. Genau das Buch, was ich wollen würde, hätte ja gerade ausgeliehen sein können. So habe ich in meinem Zimmer einen Raumteiler gefüllt mit vielen Büchern, viele davon auch gelesen, eine Vitrine, in der ich meine Bücher-Schätze und meine ausgeliehenen Bücher aufbewahre und drei Wandregale thematisch sortiert nach „Lyrik und Schreiben“, „Zu Lesen“, dann noch ein Regal mit kleinen Büchern und Büchern über Anarchismus.

Um ehrlich zu sein, es ist ausgeartet. Meine Impulskontrolle setzt aus, wenn es um interessante Bücher geht. Ein bisschen mögen die Tabletten schuld sein, die ich einnehme. Als Nebenwirkung steht im Beipackzettel geschrieben unter „Gelegentliche Nebenwirkungen: … unkontrollierbares zwanghaftes Einkaufen oder Geldausgeben“.

Das macht es nicht einfacher. Aber ich möchte Verantwortung für mein Bücherkaufverhalten übernehmen. In Schulden habe ich mich deswegen zum Glück noch nicht gestürzt. Ich möchte wieder mehr lesen, weniger scrollen, zocken, glotzen oder bingen, einfach wieder mehr lesen. Dann wäre mein moralischer Kompass auch hoffentlich wieder Up-to-date und ich wäre versorgt mit aktuellen Argumenten gegen unsolidarisches Verhalten, Hetze (online oder in-real life) und auch gegen die aktuelle Militarisierung und den Krieg vor der Haustür. Denn nur fühlen und wissen, dass etwas falsch klingt und dem widersprochen werden muss, reicht mir nicht. Ich möchte rhetorisch einwandfrei dagegen argumentieren können. Das Ziel steht. Auf geht’s in den Park mit höchstens drei Büchern im Gepäck.

Johanna nion Blau, 19.07.2024