Es war einmal eine junge Frau, die arbeitete und lebte und das jeden Tag aufs Neue dankbar. Nichts was ihr zukam, nahm sie als selbstverständlich hin. Sie war durch die Hölle gegangen, wegen einer Krankheit, die ihr ihren Kopf ver-rückte und sie unfähig zu denken und zu planen zurückließ in einem Morast aus Erinnerungen, Gefühlen, Ängsten und auch Hoffnungen.
Diese junge Frau bin ich und ich erinnere mich an die Zeit, die mein Lebensmärchen schrieb. Die Krankheit schien in ihre Schranken gewiesen worden. Vor Jahren wurde ich aus der Psychiatrie entlassen, mir eine Ration Tabletten mitgegeben und mir den guten Rat erteilt, diese Tabletten mein Leben lang einzunehmen. Diesem Rat war ich bis auf einen Absetzversuch gefolgt. Nun war ich froh und glücklich mit meinem Leben, meinem sozialen Umfeld und ich dachte nicht daran es noch einmal mit dem Absetzen zu probieren. Dann kam der Krieg, der Alle und Alles in heilloses Chaos stürzte.
Ich nahm den Kontroll-Termin bei meiner Ärztin war nach langer Wartezeit ließ sie mich vorsprechen. Wir sprachen über mein Befinden. Ich erwartete, dass sie jeden Augenblick das (mir bekannte) Rezept ausstellen würde, aber sie war schon bei der Verabschiedung. Und als ich nachfrage, bedauerte sie, sie könnte keine Tabletten mehr an Menschen verschreiben, denen es augenscheinlich gut ginge.
Mein Kopf war plötzlich leer und ich ging hinaus ohne Abschied. Was sollte nun werden? Ich hatte noch für vier Wochen Tabletten. Ohne das langsame Ausschleichen der Tabletten, würde ich höchstwahrscheinlich eine Absetzpsychose bekommen. Diese könnte Monate dauern. Das wäre in einem Kriegsgebiet sehr gefährlich. Ich könnte mich feindlichen Menschen nähern und es nicht mal merken, oder Freunde für Feinde halten, alles wäre möglich. Ich hatte schon einmal eine Absetzpsychose erlebt und wollte das unter allen Umständen vermeiden.
Sollte ich die Tabletten also weiter nehmen, wie bisher und hoffen, dass schnellstmöglich wieder Frieden sein möge, und dass die Leute wieder anfangen würden zu denken?
Oder sollte ich mich auf das Schlimmste gefasst machen und die Tabletten ausschleichen? Um der Gefahr einer Absetzpsychose zu begegnen, entschied ich mich für das Ausschleichen.
In den nächsten Monaten kämpfen wir ums Überleben und ich hatte nebenbei Sorge um meinen Geisteszustand. Doch wenn überall das Recht der Stärkeren herrscht und Gefahr an jeder Ecke lauert, dann werden alle paranoid. Genaugenommen war ich zu dieser Zeit die vernünftigste Person, die immer an den gesunden Menschenverstand appelliert und Vertrauen in die Zukunft setzte. Für mich war das in meinen schlimmsten Zeiten immer der Schlüssel gewesen, weiterzumachen.
Wenn so zum Beispiel der Bäcker erschossen werden sollte, weil er sein Brot immer teuer machte, so ging ich hin und fragte den selbsternannten Henker, ob er backen könnte und am nächsten Morgen das Brot für die Leute backen würde. Der immer noch Wütende ging dann unter Drohgebärden davon. Furchtbar waren die Nächte.
Überall hörten wir Schreie. Wir, die wir uns in unseren vier Wänden verbarrikadieren, schliefen in Schichten. Die letzte Dosis nahm ich vor der Flucht aus der Stadt ein. Wir hatten nichts mehr zu essen, keinen Strom und kein fließendes Wasser mehr. Wir mussten unser Zuhause verlassen. Wir waren eine Gruppe von fünf Erwachsenen und zwei Kindern. Zuerst gingen wir in den Wald, Beeren sammeln und aßen Blätter wie die Rehe. Wurzeln gruben wir aus, unter der Anleitung einer selbsternannten Neuen Hexe in unserer Gruppe.
Ich erzählte ihr von meinem psychischen Leiden. Sie schickte mich in den Wald Ruprechtskraut zu sammeln, welches ich auch schnell fand. Dann bereite die Weise Frau, mir eine Sud aus dem stinkenden Kraut, den ich unter Schimpfen mit Ekel trank.
Außerdem sollte ich den Heiligen Baum der Holla, den Holunder, um Heilung bitten. Das war nach dem Sud das kleinere Übel und ich „opferte“ einem schön gewachsenen alten Holunderbaum meinen Handspiegel. Ich hängte ihn an den Baum. Die Sonnenstrahlen spielten mit der spiegelnden Oberfläche und ich erkannte mich in dem Spiegel nicht wieder. Meine Augen strahlten eine Zuversicht und Willensstärke aus, die vorher oft hinter Melancholie und Gleichgültigkeit verborgen gehalten worden war. Ich pflückte noch Holunderbeeren für eine stärkende Suppe und ging zurück zum Lager.
In dieser Nacht hatte ich eine Vision oder war es doch der schleichende Beginn einer für mich verheerenden Psychose? Ich sah vor mir Jeanne D‘Arc, wie sie von Priestern geschunden wird und dann auf dem Scheiterhaufen erstickt. Dann sah ich mein Gesicht im Spiegel, am Holunderbaum, meine Lippen bewegten sich aber die Stimme, die sprach, war die meiner Tante, aber auch wieder nicht. Es war ein ruhiger, wissender Klang, wenn sie sprach: „Leite sie durch den Wald, am Bach entlang in das Dorf, das um die alte Linde gebaut worden ist. Schütze sie mit deinem Atem.“ Stimmen, wie diese, kannte ich aus der Zeit meiner Krankheit und ich war erschüttert.
Ich fuhr aus dem Schlaf und weckte mit einem gräulichen Laut, der mir aus der Kehle aufstieg, die anderen. Die Kinder fingen an zu weinen. Da kamen eine Ruhe und Bestimmtheit über mich. Ich erzählte den anderen von der Vision. Die Aussicht auf eine feste Behausung ließ sie ihre Vorsicht vergessen. Wir machten uns im Morgengrauen auf den Weg, immer am Bach entlang, und saßen das Dorf schon von Weitem, als wir die Waldgrenze erreichten.
Im Dorf fanden wir einen scheinbar verlassenen Vier-Seiten-Hof, mit wohlgenährten Hühnern und einer zahmen Katze. Nach und nach erkundeten wir das Gut und fanden in die Speisekammer gut gefüllt. Warum also waren die Bewohner nicht mehr anwesend? Wir fanden Sie im Keller, ein altes Bauernehepaar, sie hatten sich vor uns versteckt. Als sie aber sahen, dass wir weder bewaffnet waren noch gewalttätig wirkten, stellten sie uns ihre gute Stube zur Verfügung und wir durften mit ihnen essen. Das war der Himmel auf Erden, weit ab von Plünderern, Gewalt und Explosionen.
Aber wie ging es mir dabei? Ich hatte durch eine Halluzination dazu beigetragen, dass sich unser Leben schlagartig verbesserte. Oder war das alles doch ein Zufall gewesen? Meine Begleiterinnen jedenfalls hatten mich schon vorher in Angelegenheiten, die ihnen wichtig waren, um Rat gefragt und fühlten sich bestätigt. Das Stigma der Krankheit wühlte wohl noch eine Weile in mir. Dann hörte ich nicht mehr auf den Inneren Zensor, der mein Bauchgefühl in Schach hielt.
Ich entschied viel öfter intuitiv. Wenn wir im Wald unterwegs waren war ich wachsam und hörte auf die Zeichen, die sich in der Stadt für mich immer als verstörend und belastend angefühlt hatten. Ich las die Wolkenformationen, die Spuren, die Tiere im Waldboden hinterlassen hatten, lauschte dem Eichelhäher und einmal konnte ich uns so vor einem verzweifelten Mann retten, der am kurz vorm Verhungern auf alles zielte, was sich vor seinem verschwommenen Blick bewegte.
Ich näherte mich ihm sprach ruhig mit ihm, dass es hier nichts für ihn gebe. Dann versprach ich ihm, ihm etwas zu essen zu bringen, wenn er sich danach in eine andere Richtung davon machen würde. Als ich gerade ein Bündel mit Nahrung gepackt hatte, hörte ich einen Schuss. Ich rannte los und fand ihn tot an eine alte Eiche gelehnt. Er hatte sich selbst erschossen. Wieder ein Erlebnis, mit dem ich umgehen musste. Sollte ich mir Vorwürfe machen oder hatte ich richtig gehandelt? Ich entschied mich für Letzteres. Ich hatte meine Leute geschützt und er hatte seine Entscheidung getroffen. Ich bereitete ihm ein unauffälliges Grab und vergrub die Waffe an einer anderen Stelle.
Die Welt war im Umbruch. Das Leben wollte gelebt werden. Wir bewirtschafteten den Hof. Die alten Leute waren uns dankbar und berieten uns mit ihrem Wissen. Der Krieg war vorbei und wir spürten es trotz aller Geschäftigkeit. Wer hatte gewonnen? Wir wussten es nicht und es war uns reichlich egal. Wir waren froh am Leben und satt zu sein. Wir blieben und ich war genesen.
geschrieben am 29. September 2018
(Ich wünschte sehr, das bliebe ein Märchen aber für nicht wenige Menschen ist es jetzt leider bittere Realität. JB 24-02-2022)

